WGW - Willis Gourmet Werkstatt
- Vierschänkentournee Etappe 22 -
 Restaurant de l’Hôtel de Ville
Benoît Violier

Vielleicht ist heute nicht der Tag, über Benoit Violier zu schreiben. So frisch ist die Nachricht von seinem gestrigen Tode noch, so wenig weiß man über die Hintergründe. Ein Suizid soll es gewesen sein, berichten die Medien. Der passionierte Jäger soll sich mit einer seiner Jagdwaffen erschossen haben. So wie vor knapp dreizehn Jahren schon Kollege Loiseau in Frankreich.

Einige Journalisten haben gleich Theorien bei der Hand. Der Druck in der Spitzengastronomie werde stetig größer, es sei kein Wunder, wenn immer mehr Köche der Dreisterneliga den Suizid als letzten Ausweg sähen. Ich weiß nicht, wie die klugen Schreiberlinge per Ferndiagnose festgestellt haben wollen, dass Violier am Leistungsdruck der Hochgastronomie zerbrochen ist. Klar geht es da unglaublich stressig zu.

Aber Depressionen sind eine Krankheit, die viele andere Ursachen haben kann, private wie berufliche. Ein Leiden, das auch außerhalb von Stressberufen auftritt, oft völlig unerwartet, selbst für das engere Umfeld der Betroffenen nicht zu erkennen. Deswegen ist heute sicher nicht der Tag, Spekulationen in die eine oder andere Richtung anzustellen. Mein Gefühl ist ohnehin, dass es der Öffentlichkeit nicht zusteht, nach den Gründen für eine so schwerwiegende Tat zu verlangen oder diese gar zu bewerten.

Etwas schreiben möchte ich heute aber trotzdem. Die Trauer muss raus. Es trifft mich tief, wenn ein solcher Magier am „piano“ - wie die Franzosen die Küche mit all ihren Gerätschaften liebevoll nennen – so früh geht. Wenn einer geht, dem das seltene Geschenk mit auf den Lebensweg gegeben worden ist, andere Menschen mit seiner Kochkunst auf die höchsten Genussgipfel zu führen. Einer, der zu den allerbesten seiner Zunft zu rechnen war. Ein großherziger, humorvoller Mensch, der jeden seiner Gäste so behandelt hat, als sei es eine besondere Ehre, dass gerade dieser Gast sich zu Violier ins Hotel de Ville nach Crissier begeben habe. Keine Starallüren, kein Getue, sondern Menschlichkeit und Warmherzigkeit, wie man sie in dieser Form sonst fast nur von den Haeberlins in Illhaeusern kennt.
Schon lange liegen die Notizen von meinem letzten Besuch in Crissier auf dem Schreibtisch und warten darauf, in die Chronik der Vierschänkentournee einzugehen. Schlimm, dass es einen so tragischen Anlass braucht, damit ich die guten Vorsätze endlich Wirklichkeit werden lasse. Hier also in memoriam Benoit Violier das Protokoll eines denkwürdigen Abends, den ich in Crissier verbringen durfte.

Denkwürdig auch deshalb, weil es ein halbes „blind date“ mit dem Beckustator war, meinem Facebookfreund Yves Beck, den ich bis dorthin fast nur aus dem Web kannte. An sich ein Risiko, das erste ausführliche Zusammentreffen in einen Gourmettempel zu legen.

Denn wie oft sind die Menschen im wahren Leben dann doch ganz anders als sie sich in den sozialen Medien darstellen. Und wenn man eines der besten Restaurants der Welt geht, was wollte man an so einem Abend weniger als sich über einen Tischgenossen zu ärgern, der Pfennige zählt, nicht wirklich genießen kann oder mit dem die Chemie einfach nicht passt.

Aber irgendwie scheint das alles nicht für die Onlinebekanntschaften zu gelten, die man über den Themenkreis Wein und Gastronomie macht – ein seltsam belastbares Bindeglied. Enttäuschungen sind da selten.
So auch mit Yves. Ein Pfundsschweizer, der mich gleich mit seiner Herzlichkeit umarmt hat und mit dem aus dem Abend ein gewaltiges Fest wurde. Was auch daran lag, dass er mir sehr nachdrücklich seine Leidenschaft für Schweizer Weine zu vermitteln trachtete. Wir hatten unsere Hinterteile noch nicht richtig in die Sessel des gemütlichen Gastraumes fallen lassen, da war auch schon eine Flasche Chardonnay aus Yves Heimat geordert.

La Neuveville von der Domaine Frôté am Bieler See. Kräftig und trotzdem elegant wie es eigentlich nur ein guter Franzose kann. Was ich inzwischen schon über so viele Chardonnays aus anderen Ländern als Frankreich gesagt habe, dass es eigentlich nicht mehr stimmt.

Also, ich korrigiere: Kräftig und trotzdem elegant, wie man früher immer dachte, dass es nur ein guter Franzose könne.Gelegenheit den Blick schweifen zu lassen. Zwar ist das Hotel de Ville seit den Zeiten von Fredy Girardet mehrfach renoviert worden, zum Glück blieb aber der Charme erhalten. Etwas modernere Kunst an den Wänden, alles ist eine Spur eleganter geworden. Doch mit viel Charme, es wird deutlich, dass sich Violier in der Tradition seiner beiden Vorgänger sieht, des „Jahrhundertkochs“ Fredy Girardet und Philippe Rochats. Herrjeh, ich schreibe noch immer in der Gegenwart, als lebte er noch…

Inzwischen fährt die Küche die ersten Häppchen auf – Jakobsmuscheln aus der Mündungsbucht der Seine, gekrönt von zweierlei Kaviar. Die Hälfte der Coquilles war in einer Champagnersauce leicht pochiert und mit einem ordentlichen Schlag Ossietra-Kaviar gekrönt worden, die andere Hälfte hatte die Küche roh in Limonensaft mariniert und mit einer Art Limonenkaviar gekrönt.

Die Limonen nicht zu sauer, sie ließen den St.-Jacques noch genug Raum zur Entfaltung ihres eigenen Aromas. Auch nicht wirklich molekular, es waren nicht die geometrisch perfekten Kügelchen a la Ferran Adria, der die Limonen im Zweifel noch kaviarschwarz eingefärbt hätte, sondern eher approximative Annäherungen an Kaviarkörnchen. Der Geschmack zählt, nicht der optische Gag, ein Leitmotiv der Violier-Küche, das uns über den Abend begleiten sollte.
Zwischen die Jakobsmuscheln waren einige Creme Fraiche-Tupfer gesetzt, klassisch zum Kaviar, hier mit etwas Dill abgerundet. Das passte perfekt, am Gaumen wurden die Jakobsmuscheln wunderbar vielschichtig untermalt von der Säure der Limone, von der Cremigkeit der Sahne und der Champagnersauce und von der leicht salzigen Fischigkeit des Kaviars. Ganz großes Kino schon zum Auftakt.
Während der Pegel der Chardonnayflasche recht flott in Richtung Grundwasserspiegel marschierte und Geschichten über Wein, Weib und Restaurants ausgetauscht wurden, arbeitete die Küche am nächsten Akt, der Stopfleber von der Ente aus den Landes, glasiert mit altem Bual-Madeira aus 1978. Dazu etwas Apfel und ein wenig raukenartiger Salat. Wieder ein kleines Wunderwerk.

Die Leber von außergewöhnlicher Qualität, nicht gebraten, sondern als Pastete zubereitet, perfekt gewürzt, schmelzig, intensiv, toll! Auch das Spiel mit dem Madeira und dem Apfel funktionierte ziemlich gut.

An der Stelle muss ich zugeben, dass ich eine Stopfleber dieser Qualität am liebsten ohne viel Beiwerk verputze. Sie so in purer Form zu servieren traut sich allerdings außer Marc Haeberlin kaum ein Koch der Dreisterneliga.

Weil man wohl fürchtet, die Gastrokritiker könnten den Mangel an kompositorischer Kreativität rügen. Deswegen werden die Lebern dieser Welt immer wieder mit Birnenmus, Feigensenf oder anderen Grausamkeiten zugekleistert, die nur zu oft vom feinen Eigengeschmack der Foie Grad ablenken. Mit dem Madeira wurde diese Klippe umschifft, er dominierte nicht, er erschlug nicht. Ohne ihn hätte ich das tote Tier aber genauso gerne verschlungen, das gehört auch zur Wahrheit.
Weiter ging es mit einem Klassiker, dem Ei vom jungen Huhn mit weißen Albatrüffeln und Capellini. Eine wunderbar schaumige Eiercreme, in die sicherlich schon der eine oder andere Stich Trüffelbutter Eingang gefunden hatte – und zwar die richtige Trüffelbutter, nicht dieses synthetische Zeug, falls ich das noch betonen muss. Obenauf eine großzügige Schicht weiße Trüffeln, darauf noch ein paar Eierkrümel und ein wenig glatte Petersilie. Was habe ich über Petersilie schon geschimpft. Weil sie eigentlich nach nix schmeckt, das aber penetrant.

Weil sie grün und langweilig vorschmeckt und andere, viel interessantere Aromen abwürgt. Hier aber nicht. Es war ja nur ein Hauch. Der der Eiercreme und den Trüffeln nichts nahm, mit den Eierkrümeln sogar erstaunlich freundlich umging und ihnen eine zusätzliche Nuance gab. Da stimmte alles, was für ein köstliches Ding! Besser geht Trüffel und Ei wohl nicht.Miteinander, der Kaviar war vom Kraut überfremdet, da muss mal einer die Integrationsbeauftragte rufen!

Yves wälzte inzwischen die Carte des Vins. „Auf einem Wein kann man nicht stehen“, murmelte er mit Blick auf den bedrohlichen Schwund in der Chardonnaypulle. Und prognostizierte mit überraschend großer Genauigkeit, dass schon noch ein fleischlastiges Hauptgericht kommen werde, zu dem kein Weißwein passen werde.

„Das Problem ist nur, der Cornalin von Denis Mercier, den ich Dir gerne vorführen wollte, den gibt es in Einteln nur aus eher mittleren Jahren. Den 2010er, der ist top, aber den gibt’s nur als Magnum.“ Na ja, der Igel ist selbst etwas mehr Magnum als man es den Fotos nach dächte. Und Yves, wiewohl sehr flink unterwegs, schien aktuell auch nicht akut vom Hungertod bedroht. Fassungsvermögen war insofern hinreichend vorhanden. Ohne parlamentarische Aussprache kam es zur Beschlussfassung, die Magnum zu ordern. „Zur Not nehmen wir den Rest mit für den nächsten Abend.“
Erst einmal war aber noch der Seeigel von den Vestmann-Inseln zu verspeisen. Die liegen irgendwo bei Island, wo meine subaquatischen Verwandten wohl besonders gut gedeihen. Denen stand ich in kulinarischer Hinsicht lange skeptisch gegenüber, seit ich mal so einen Seeigel aus dem Urlaub mitgebracht und auf der Terrasse gelagert habe, wo er bei sommerlichen Temperaturen sehr schnell ein prägnantes Aroma weiter über die Grundstücksgrenzen hinaus zu verströmen beliebte (was es dem Nachbarskläffer mal eine Weile erfreulich unangezeigt erscheinen ließ, in den Garten zu kommen).

Wenn man das erst mal gerochen hat, kann man sich nicht mehr wirklich vorstellen, dass die Dinger auch richtig gut schmecken können. Was heißt gut? Das, was Violier auf den Teller zauberte, hätte ohne weiteres als Rauschmittel auf den Index gesetzt werden können.

Der Meeresigel schwamm in einer sahnigen Bisque, obenauf mit etwas aufgeschäumter Sahne gekrönt. Unheimlich intensiv, wer weiß, was da alles Eingang gefunden hat, Gemüsebasis, wahrscheinlich einige Krustentierkarkassen, ein Haucherl Knoblauch vielleicht?

Grandios! Zumal nebenan eine Fenchelcreme aufgestellt war, die mit reichlich Gemüse und etwas Safran einen wunderbaren Kontrapunkt abgab.
Wieder ein opulentes Aromenkonzert. Und wieder stimmte alles. Perfektion, nicht weniger.

Auf diesem unfassbaren Niveau ging es weiter. Aus der Küche brachte man uns ein gegrilltes Stück aus dem Rücken des Steinbutts. Perfekt gegart, das darf in dieser Liga erwarten, vor allem aber grandios abgeschmeckt mit einer leicht zitronierten Beurre Blanc und Kräutern. Mit dem Salz geht Violier dabei nicht allzu zimperlich um, das gefällt mir! Auch die kunstvoll am Spielfeldrand aufgebauten frischen Junggemüse haben nach dem Motto „sauer macht lustig“ einem Spritzerchen Zitronensaft Asyl gewährt. Ein Stich Butter in der Creme von Bohnen und Erbsen, in der Zuckerschoten, dicke Bohnen und Zucchinischeibchen sitzen, fängt das nicht nur bestens auf, sondern macht wiederum nichts anderes daraus als ein Meisterwerk. Was für eine grandiose Küche!

Aus der Chardonnayflasche war nichts mehr zu wringen, beim besten Willen nicht. Der Sommelier schaute leicht panisch, gewärtigte wohl, dass wir als Zwischengang vor der Magnum noch eine Flasche Weißen einschieben könnte. „Zur Not geht der Rote auch zu Ihrem letzten Fischgang“, schlug er treuherzig vor. Und wir schlugen auch und zwar ein. Mit Recht! Tatsächlich vertrug sich der unfassbar gute Cornalin prächtigst mit der „Langoustine“ aus dem Hafen von Doelan. Dazu muss ich jetzt gleich zwei Dinge erklären. Erstens – es war wirklich eine Langustine. Also eine kleine Languste. Und nicht der Kaisergrant, der in Frankreich als Langoustines verkauft wird.
Und zweitens – die Babylangusten dürften nicht wirklich im Hafen von Doelan gefangen, sondern dort nur angelandet worden sein. Wobei Doelan ein beschaulicher Weiler am Westende der Bretagne ist, wo der Hafen kein kloakig-öliges Becken ist, sondern mehr Yachthafen als Fischereihafen. Und mit sauberstem Wasser. Da könnte man von Boden essen, vom Meeresboden.

Also, alles gut! Vor allem die Langustine. Genau richtig gebraten, so dass sie nicht mehlig schmeckte und außen auch nicht überröstet war. Optisch, na ja, wie sag ich das jetzt diplomatisch? Eher hingerichtet als angerichtet, mit einem dicken Klatscher gaucamolesker Sauce obenauf und reichlich Gemüsejulienne rundum. Und mit einigen Tupfern à la große Koalition, schwarze Olivensauce und rote Tomatensauce. Sah wirklich nicht nach Sterneküche aus. Schmeckte aber so – die Gemüsekomponenten ergänzten sich zu einer grandiosen Harmonie, die Sauce verband Rohkost und Krustentier ganz trefflich, die Tomaten setzten einen süßlichen Akzent dazu und die Oliven die kleine bittere Dissonanz, die verhindert, dass das Ganze ins Kitschige abkippt. Wieder Geschmack vor Optik und wieder kompletter Verzicht auf Schnickschnack. So! Will! Ich! Das! Köche der Welt, schaut auf dieses Hotel de Ville – an diesem Abend definitiv ein Hotel de Willi!

Nun bekam der Cornalin, dem ich mal eben schlanke 92 von 100 Willipunkten um den Hals gehängt hatte, eine Herausforderung vor seine Nase gesetzt, die ach so voll und fruchtig aus dem Glas in den Saal donnerte. Ein Gemsenfilet! Klingt banal. Aber hier hat Violier genau das gemacht, was ich vorhin bei der Stopfleber beschrieben habe. Produkt pur. Na ja, fast. Natürlich kamen beim Braten auf die Gemse auch noch Salz, Pfeffer und das eine oder andere Gewürz. Im Mittelpunkt steht aber das Fleisch vom dem Tier aus der Familie der Ziegenartigen. Und was für ein Fleisch.

Kein Haut Gout, eher ein sanfter Wildgeschmack. Gustativ eher mit dem Reh verwandt als mit der Ziege, was wissen diese Zoologen schon. Wie die Equipe von Violier das allerdings in der Pfanne hinkriegt, dass das dünne Ende des Filets exakt genau auf dem gleichen perfekten Garpunkt ist wie das doppelt so umfängliche dicke Ende, würde mich als Hobbykoch schon mal brennend interessieren.
Saftig, würzig, alles nette Adjektive, alle aber unzulänglich um diese Perfektion auch nur asymptotisch zu beschreiben.

Ach ja, nebendran stehen noch mit Kartoffelschaum gefüllte Zwiebelchen über die etwas Rosenkohl gehobelt ist. Stört nicht, im Gegenteil, mundet sehr. Aber für mich gibt’s hier erstmal nur Fleisch.

Das beste Gemsenfleisch ever! Und ja, ich weiß, dass man das jetzt eigentlich „Gämse“ schreibt. Aber der Igel ist Rechtschreibrevoluzzer und zudem gastronomieverwöhnt. Der sucht sich aus der Rechtschreibreform wie aus dem Menü im Sternelokal nur das raus, was ihm mundet. Und diese Gemse war viel zu köstlich für eine Gämse. So!

Der Cornalin floss dazu in Strömen. So langsam auch der Schweiß des Sommeliers, der wahrscheinlich gewärtigte, die beiden lustigen Herren könnten zum Dessert vielleicht noch ein Liedchen anstimmen. Als Präventivschlag der Küche wurde schnell etwas Käse aufgefahren. Schweizer Raritäten und Klassiker, alles – natürlich – perfekt auf dem Punkt, wie könnte es an diesem Abend anders sein.

Wir ließen uns Zeit mit dem Fromage, denn der Cornalin wollte dann doch nicht ins Doggy Bag, sondern würdevoll geleert werden.

Den Gefallen taten wir ihm, der war einfach viel zu gut als dass er am nächsten Abend noch besser hätte werden können. Und irgendwie lief er auch so lässig rein. Was natürlich dazu führte, dass wir zum Dessert nichts mehr davon hatten. „Zum Süßkram hätte er sowieso nicht gepasst“, meinte Yves, „da braucht es einen Dezaley. Da gibt es einen, der ist wirklich genial, den musst Du noch probieren“.

Das war jetzt eine böse Retourkutsche, weil ich den Schweizer Chasselas am Anfang des Abends pauschal niedergemacht hatte, mit guten Argumenten wie „malolaktische Gärung beim Weißwein, ja geht’s noch?“ Hätte ich gekniffen, wie hätte das denn ausgesehen? Natürlich hatte Yves einen ausgesucht, der wirklich ziemlich gut war. Und nicht etwa, weil nach anderthalb Flaschen so ziemlich alles mundet, nee, der hatte tatsächlich was.
Trotz des kitschigen Etiketts (wenigstens den muss ich noch rauskloppen, finde ich, wenn mich dieser Chasselas schon widerlegt).

Das Servicepersonal konnte unser Fassungsvermögen kaum fassen und brachte schnell das erste Dessert, ein Arlette-Küchlein mit Waldbeeren und Pistazien aus dem Ätnatal. An sich ist die Arlette gerne mal ein hohles Förmchen, in das man dann Beeren und ähnliches einfüllt. Etwas Zuckerguss drüber, fertig. Bei Violier hat die Arlette statt dessen Rückgrat, wölbt sich nach oben. Die Früchte sind oben drauf geheftet wie die Orden an die Brust eines chinesischen Generals, nur glänzen sie schöner. Jede einzelne Beere eine Köstlichkeit. Man weiß gar nicht, ob man sie zusammen mit dem pistazisierten Küchlein futtern oder solo genießen soll.
Jedenfalls superb! Mehr davon!

Das gabs zwar nicht, dafür aber ein weiteres Dessert. „Zum Abschluss haben wir für Sie ein Schokoküchlein mit Kaffeecremefüllung“, säuselte die Kellnerin. Ja gut, das klingt jetzt als könnte es das auch in Heinos Café in Bad Münstereifel geben. Aber bei Violier reden wir natürlich nicht vom altdeutschen Cremeschnittchen. Wir reden von Patissierkunst höchsten Niveaus. Mal ganz davon abgesehen, dass die Dame das köstliche Praliné-Eis verschwiegen hatte, das da auch noch auf dem Teller um die Gunst des Gourmets buhlte.

Und die Haselnüsse, die im Match zwischen Kakao und Kaffee so eine Art Ringrichter spielen, der die unterschiedlichen Aromen voneinander trennt. Anders als der Ringrichter lassen sich die Nüsse aber mit beiden auch ein wenig ein, spielen mit, stehen nicht nur dazwischen. Auch von der Textur setzen sie im saftigen Küchlein einen knackigen Akzent. Wieder ein grandioser Genuss, Donnerwetter.

Damit war das offizielle Programm durch. Und die Dezaley-Flasche auch schon erstaunlich leer. Den Rest genossen wir zu den Mignardises, die natürlich auch noch kamen. Ebenso wie der Küchenchef. Vielleicht wollte er nur mal sehen, welche Verrückten ihm da seinen Weinkeller leerten und das Essen mit Igeln fotografierten. Jedenfalls lud Benoit Violier uns ein, seine Küche zu besichtigen. Wir schwankten hinüber und legten erst einmal die Ohren an.
Während es gerade in solchen älteren Häusern in den Küchen oft sehr beengt zugeht, hatte man hier bei den Renovierungen Platz für ein großzügiges Paradies geschaffen. Selten habe ich eine so moderne, so funktionale und so bequeme Anlage gesehen. Beeindruckend!

Zwanzig Minuten fachsimpelten wir (Yves und ich eher als Simpel denn als Fachleute) und erläuterte Violier uns seine Küchenphilosophie. Dass er am Ende sogar noch bat, doch ein gemeinsames Foto von Gourmetkoch und bloggendem Gourmetigel machen zu lassen, ist Ausdruck seiner besonderen Wertschätzung – auch für etwas andere Gäste. Ein warmherziger, eindrucksvoller Mensch. Um so mehr hat mich die traurige Nachricht von gestern getroffen.

Welch ein Verlust!

Auch im 23. Etappenstopp geht es um einen großartigen und leider im Juli 2017 ebenfalls verstorbenen Koch: Helmut Thieltges galt als einer der besten Köche in Deutschland und war ein Ausnahmetalent in der deutschen Spitzengastronomie. Mehrfach durch den Guide Michelin, Gault-Millau, Schlemmer Atlas und Feinschmecker mit Höchstbewertungen ausgezeichnet, hat er dem Restaurant Sonnora in Dreis zu internationalem Ruhm verholfen und durch sein viel zu frühes Ableben eine große Lücke hinterlassen.

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